50 Jahre Stahlproduktion in Rourkela
Publikationen
50 Jahre Stahlproduktion: Was passierte mit den Adivasi von Rourkela?
Materialsammlung zum bekanntesten Projekt der deutsch-indischen Entwicklungszusammenarbeit erschienen
Rourkela – eine Stadt 400 Kilometer westlich von Kalkutta. Ein durchaus bekannter Name in Deutschland, nachdem dort vor ziemlich genau 50 Jahren eines der größten deutschen Entwicklungsprojekte verwirklicht wurde. Wo sich vorher eine „unbekannte Wellblechstation an der einspurigen Eisenbahnlinie von der bengalischen Hafenstadt nach Bombay“ (Hans Walter Berg) befand, steht heute ein riesiges Stahlwerk und eine dieses umgebende Großstadt mit rund 400.000 Einwohnern. In diesem Teil des Bundesstaates Orissa lebten vor 50 Jahren fast ausschließlich Adivasi. Heute ist der Adivasi-Anteil im Sundargarh-Distrikt, zu dem Rourkela gehört, auf 50 Prozent geschrumpft. In den vergangenen fünf Jahrzehnten wurde dieses Großprojekt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet – etwa die volkswirtschaftliche Perspektive, bei der die von Nehru propagierte Politik des forcierten Aufbaus einer Industrie im eigenen Lande im Mittelpunkt stand oder die in Schulbüchern beliebte städtebauliche Betrachtung der Entstehung urbaner Siedlungsstrukturen in einem ländlichen Gebiet. Daß in dem Gebiet Ureinwohner lebten, wurde zwar im Sinne von „exotisch“ und „primitiv“ registriert. Ihr Schicksal in Form von Vertreibung und Entwurzelung wurde jedoch wohl als „Preis des Fortschritts“ stillschweigend hingenommen.
Als Begleitmaterial für eine angestrebte kritische Aufarbeitung des Projekts Rourkela (vgl. Adivasi-Rundbrief Nr. 25, August 2005) ist nun eine Textsammlung erschienen, welche Informationen mit Fokus auf die ursprünglichen Bewohner des Stahlstandortes bietet. Die Texte und Dokumente sind in vier große Teile aufgegliedert: Der erste Teil besteht überwiegend aus offiziellen Verlautbarungen, in welchen die Enteignung des Landes dokumentiert und gerechtfertigt wird. In diesem Teil sind auch die Protestschreiben der vertriebenen Dorfbewohner enthalten, darunter der wohl erste Appell vom 3. Februar 1959 an den Präsidenten der Republik Indien. Noch heute, fast zwei Generationen später, kämpfen Adivasi von Rourkela und Umgebung um eine angemessene Entschädigung. Nach dem dokumentarischen Teil I finden sich im Teil II Analysen und Interpretationen, unter anderem ein Auszug aus der Studie von 1963 „Rourkela – Sozio-ökonomische Probleme eines Entwicklungsprojekts“ des deutschen Soziologen Jan Bodo Sperling. Aus dem Umfeld der aktuellen Widerstandsbewegung werden zwei längere Beiträge wiedergeben. In Kontrast dazu steht eine glorifizierende Rede, die der Direktor des Stahlwerkes im Jahr 2005 vor der deutsch-indischen Handelskammer in Mumbai gehalten hat. Daß Rourkela kein einmaliger Betriebsunfall war und daß man in den vergangenen fünf Jahrzehnten kaum dazugelernt hat, zeigt der dritte Abschnitt der Sammlung: Hier werden aktuelle Entwicklungen nachgezeichnet, in denen Adivasi Opfer von „Entwicklung“ wurden, etwa das Massaker an Adivasi in Kalinga Nagar/Orissa im Januar 2006 (vgl. Adivasi-Rundbrief Nr. 26, Mai 2006). Hierbei ging es um ein zukünftiges Firmengelände des Stahlunternehmens TATA. Im vierten Teil der Materialsammlung werden schließlich wichtige Texte aus dem internationalen Recht dokumentiert, welche zur Wahrung der Rechte indigener Völker beitragen sollen. Dazu gehört unter anderem die erst Ende Juni 2006 vom UN-Menschenrechtsrat verabschiedete „Erklärung über die Rechte Indigener Völker“.
Adivasis of Rourkela. Looking Back on 50 Years of Indo-German Economic Cooperation.
Documents – Interpretations – International Law. Edited and published by sarini and Adivasi-Koordination in Germany 2006 (sarini Occasional Papers, No. 4). Erhältlich gegen eine Spende von mindestens 5 Euro bei: Johannes Laping, Christophstr. 31, 69214 Eppelheim, Tel. 06221-766 557, Fax 766 559, sarini-jl@gmx.de. Kostenloser Download: Adivasis of Rourkela. Looking back on 50 Years of Indo-German Economic Co-operation. Documents – Interpretations – International Law (Dateiumfang 1,9 MB). Dokumentation über die Fachtagung an sich: Rundbrief 28
Hans Escher
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift MEINE WELT. Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialoges. September 2006.