Was die indischen Ureinwohner uns zu sagen haben
Auszüge aus einer am 15. September 1993 in Bonn vorgetragenen Erklärung der Adivasi-Delegation
Eine Vielfalt von Bezeichnungen sind für Indiens Ureinwohner in Gebrauch – wie sie selbst bezeichnet werden möchten. Die Adivasi sind unter verschiedenen Namen bekannt. Unsere Regierung kategorisiert uns als „scheduled tribes“ [amtlich aufgelistete, das heißt offiziell anerkannte Stämme, A.d.Ü.]. Einige nennen uns „Waldbewohner“. Andere wiederum bezeichnen uns als „Bergvölker“. Wir jedoch bevorzugen es, uns „Adivasi“ zu nennen, die ersten Siedler unseres Mutterlandes, die indigenen Völker.
Trotz Millioneninvestitionen in Entwicklungsprojekte – die Lebensbedingungen verschlechtern sich weiter
Die indische Verfassung erkennt die Adivasi mit ihrer eigenen sozio-religiösen und kulturellen Identität an. Viele Schutzmaßnahmen sind in unserer Verfassung aufgeführt. Der indische Präsident ist sogar direkt dafür verantwortlich, durch die Gouverneure der Bundesstaaten und die Distriktverwaltungs-Leiter die Adivasi zu schützen. Gesetze zum Schutz von Adivasi- Land findet man in den meisten Bundesstaaten mit einem größeren Bevölkerungsanteil von Adivasi. Viele Wohlfahrts- und Entwicklungsmaßnahmen werden von Regierungs- und nichtstaatlichen Organisationen unter den Adivasi durchgeführt. Wir hatten auf bessere Tage im freien und unabhängigen Indien gehofft, doch wir müssen zusehen, wie sich Tag für Tag unsere Lebensbedingungen verschlechtern. Sogar die Regierung gibt zu, daß alle Versuche auf dem Gebiet der Entwicklung, verbunden mit Millioneninvestitionen, nicht zu befriedigenden Resultaten geführt haben. Armut, Analphabetentum und ein schlechter Gesundheitszustand bedrohen das Überleben der Adivasi weiterhin.
In der größten Demokratie der Welt besteht keine Mitsprache für Adivasi
Die Adivasi organisierten sich in ihren Gesellschaften auf der Grundlage demokratischer Werte. Wir legten großen Wert auf die Mitsprache des Volkes bei grundlegenden Entscheidungen, auf Kooperation bei gemeinsamen Aufgaben und auf den Konsensim Entscheidungsfindungsprozess. Das freie Indien jedoch, das so stolz ist, die größte Demokratie der Welt zu sein, war nicht in der Lage, die Adivasi bei Entwicklungsmaßnahmen einzubeziehen. Folglich hat es deren Vertrauen in den Prozess der Planung, Durchführung und Auswertung von Entwicklungsprogrammen verloren. Die Regierung und auch die nicht-staatlichen Organisationen haben die Adivasi als ein Volk mit eigener Identität ignoriert und konnten daher von dessen Weisheit bei den Entwicklungsmaßnahmen nicht Gebrauch machen. Nehmen wir die Großstaudammprojekte Narmada, Koel Karo, Subarnarekha und Damodar, die Errichtung großer Eisen- und Stahlwerke in Bhilai, Rourkela, Hatia, Bokaro, Durgapur und Jamshedpur. Wurden die Adivasi nach ihrer Meinung gefragt, als diese Projekte geplant wurden? Wurden ihre Interessen berücksichtigt, als bei der Durchführung dieser Projekte ihr Landbesitz, ihre Wälder, ihre ökonomische Lebensgrundlage zerstört wurden? Die Antwort ist ein klares „nein“. Das alles dominierende nationale Interesse wurde zu Lasten des Überlebens eines ganzen Volkes – der Adivasi in Zentralindien – durchgesetzt. Was demokratische Mitbestimmung betrifft, leistet man lediglich Lippenbekenntnisse, besonders bei der Durchführung von Entwicklungsprogrammen in Adivasigebieten.
Adivasifrauen: Die Assimilierung macht sie unfrei
Adivasifrauen leben in einer egalitären Gesellschaft. Sie sind vergleichsweise freier als ihre Geschlechtsgenossinnen in der vorherrschenden Hindugesellschaft. Adivasifrauen sind für die Männer gleichrangige Partner bei ihren sozio-ökonomischen Aktivitäten. Land und Wald sind die Hauptquellen ihresErwerbslebens. Frauen haben eine gleichwertige oder sogar größere Bedeutung bei der Sicherung des Lebensunterhaltes ihrer Familien. Adivasifrauen waren es gewohnt, im Wald Brennholz, Nahrung und Futter zu finden. Aufgrund der Forstgesetzgebung und aufgrund von Entwicklungsprogrammen ist ihnen heute der Zugang zu den natürlichen Ressourcen verwehrt. Das junge Mädchen ist bei den Adivasi etwas Wertvolles für die Familie. Jungen und Mädchen sind gleichrangig. Mittel zur Geburtenkontrolle, Tötung weiblicher Kleinkinder oder von Föten sind unter Adivasi vergleichsweise wenig verbreitet. Es gibt kein Mitgiftsystem. Daher kommt auch keine Ermordung von Bräuten vor [in der Hindugesellschaft kommt es vor, daß die Braut von ihrem Ehemann ermordet wird, weil sie nach dessen Ansicht zu wenig Mitgift in die Ehe eingebracht hat, A.d.Ü.]. Alphabetisierung und Bildung ist für Adivasifrauen und -kinder ein Problem, da in fremden Sprachen unterrichtet wird und in den Lehrbüchern irrelevante Inhalte vermittelt werden. Durch die Verwendung der Adivasisprachen und -literaturen im Unterricht würden wir sehr große Fortschritte machen. Adivasifrauen werden durch Fremde sexuell und ökonomisch ausgebeutet. Nicht-Adivasi verführen Adivasimädchen, heiraten sie und lassen sie nach einiger Zeit im Stich. Der Einfluß der vorherrschenden Hindugesellschaft raubt den Adivasifrauen das Recht auf Gleichheit und Freiheit durch den Prozess der Entwicklung und Assimilierung.
Autonomie und Selbstbestimmung – gegen das Aufgehen in einem kulturellen Einheitsbrei
Die Idee der Einheit inderVielfalt scheint langsam hinfällig zu werden,daein monolithisches sozio-ökonomisches und politisches Machtzentrum unsere Nation prägt. Viele Adivasigemeinschaften wurden zerstückelt, da man dieselbe Gruppe auf verschiedene Bundesstaaten aufteilte in der Hoffnung, die Bundesstaaten würden sich angemessen um sie kümmern. Die Ergebnisse waren jedoch gerade das Gegenteil. Deshalb sind die Suche und der Kampf um Autonomie als einzige Lösung für die Grundfragen unserer Gesellschaft weitverbreitet. Der Kampf um ein autonomes Bodoland, Gorkhaland, Jharkhand, Uttarakhand, Chattisgarh, Vidarbha usw. sind klare Beispiele für die Suche nach Autonomie innerhalb der indischen Union. Den Adivasi auf Distrikt- und Bundesstaatsebene muß man Entscheidungsgewalt einräumen, damit sie über ihr Schicksal innerhalb Indiens selbst entscheiden können.
Appell an die Menschen in Europa
Wir sind während des Jahres der indigenen Völker hierhergekommen, um ihre Unterstützung in unserem Kampf ums Überleben zu erbitten. Wir appellieren
- an die Presse, nicht nur die krassesten Menschenrechtsverletzungen herauszustellen, sondern auch den schleichenden Tod, dem die indigenen Völker ausgesetzt sind;
- an die Regierungen, ihre Zusammenarbeit mit unserer eigenen Regierung zu überprüfen und zuzusehen, daß unser Volk nicht geschädigt wird;
- an die nichtstaatlichen Organisationen, insbesondere die der Kirchen, ihre Politik radikal zu ändern, so daß die Mittelmänner ausgeschaltet werden und direkte Kontakte von Volk zu Volk aufgenommen werden;
- und schließlich an die Allgemeinheit, sich dieser Kampagne der Bewußtseins- und Solidaritätsbildung für die Adivasi anzuschließen.
Bischof Dr. Nirmal Minz, Dr. Ram Dayal Munda, Frau Sandhya Naik, Dr. Siddhraj Solanki